3. Die Wanderung des Sachsennamens
Unter dem Welfen Heinrich dem Löwen hatte das alte Stammesherzogtum Sachsen seine größte Ausdehnung erreicht: Es umfasste das gesamte heutige Nordwestdeutschland und erstreckte sich auch bis nach Mecklenburg hinein (vgl. Karte). Heinrich war zudem seit 1155 noch Herzog von Bayern. Durch diese für den Zusammenhalt des Reiches gefährlich werdende Machtexpansion und ein fast königsgleiches Ansehen hatte sich Heinrich viele Feinde gemacht (Jordan, 1979). Als Heinrich, dessen Interessen vor allem im Norden lagen, den staufischen Kaiser Friedrich Barbarossa nicht bei dessen Kriegen in Italien unterstützen wollte, nahm Barbarossa dieses im Jahr 1180 zum Anlaß, den Welfen wegen Unbotmäßigkeit zu ächten und ihm die Herzogtümer Sachsen und Bayern zu entziehen (festgeschrieben in der "Gelnhäuser Urkunde"). Damit wiederholte sich die Geschichte, schließlich wurde bereits Heinrichs Vater von einem staufischen Kaiser geächtet. Nun setzte eine merkwürdige, rein dynastische Wanderung des Sachsennamens ein, die im Folgenden erläutert wird (nach Lent, 1971; Richter, 1978; Scheuch, 1997; Capelle, 1998).
Nach der Entmachtung Heinrich des Löwen wurde von Barbarossa aus dem südlichen Westfalen ein eigenes Herzogtum geschaffen. Über dieses bekam der Erzbischof von Köln, der Barbarossa beim Sturz des Welfen unterstützt hatte, die Herrschaft. Das übrige Herzogtum Sachsen wurde - wie bereits nach der Ächtung Heinrich des Stolzen - einem Askanier übertragen, und zwar dem im Mittelelbegebiet ansässigen Bernhard, Sohn Albrechts des Bären. Dieser konnte von seinem randlich gelegenen Machtbereich, dem späteren Anhalt, das große Herzogtum nicht mehr beherrschen, so daß es in mehrere Territorien zerfiel. Das wichtigste von diesen war das 1235 auf der Grundlage des umfangreichen Eigenbesitzes der Erben Heinrichs des Löwen entstandene Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, das die Tradition des alten sächsischen Stammesherzogtums zwischen Weser und Elbe fortsetzte und das Kerngebiet des heutigen Bundeslandes Niedersachsen darstellt. Den Askaniern verblieb als Herzögen von Sachsen im Bereich des alten Stammesherzogtums lediglich das Land Hadeln (Haduolaun) an der Elbmündung sowie das um die Grafschaft Ratzeburg und das Amt Neuhaus erweiterte Lauenburger Gebiet östlich von Hamburg. Grundlage für ihre herzogliche Stellung waren deswegen nicht diese kleinen Splitterterritorien, sondern ihre alten askanischen Kernlande um Wittenberg an der mittleren Elbe (vgl. Karte). Auf dieses Gebiet ging der Name "Sachsen" in der Form "Sachsen-Wittenberg" über, der damit vom ursprünglichen sächsischen Stammesbereich die Elbe aufwärts gewandert war. Die Region des zersplitterten, ehemaligen Stammesherzogtums wurde aber weiterhin - bis in das 16. Jahrhundert - mit dem Oberbegriff "Sachsen" bezeichnet (Lent, 1971; Hucker, 1997).
Der Doppelbesitz des neuen askanischen Herzogtums Sachsen spaltete sich unter Bernhards Enkeln 1260 in die Herzogtümer Sachsen-Lauenburg und Sachsen-Wittenberg. 1356 stieg das Herzogtum Sachsen-Wittenberg zum Kurfürstentum auf und wurde ab dann auch als "Kursachsen" bezeichnet. Das Herzogtum Sachsen-Lauenburg fiel mit dem Aussterben der dortigen Linie 1689 an das welfische Herzogtum Braunschweig-Lüneburg. Der größte Teil des ehemaligen Herzogtums Sachsen-Wittenberg wurde nach dem Tod des letzten askanischen Kurfürsten 1422 entgegen den Erbansprüchen der Lauenburger und der Welfen 1423 von Kaiser Sigismund dem Markgrafen Friedrich dem Streitbaren von Meißen zugesprochen, der damit zugleich die Würde eines Kurfürsten von Sachsen erhielt - ohne daß sich ein Teil des alten Stammesherzogtums Sachsen in seinem Besitz befunden hätte (vgl. Karte). Kurfürst zu werden bedeutete nicht nur, einen prestigeträchtigen Titel zu übernehmen, sondern beinhaltete auch das Recht, den König mitzuwählen. Zusammen mit der Kurwürde wurde in der Folgezeit auch der Name "Sachsen" auf die alten Stammlande der Markgrafen von Meißen, der Wettiner, an der Oberelbe, übertragen. Diese Namensübertragung auf das Kerngebiet des heutigen Bundeslandes "Sachsen" geschah nur allmählich und setzte sich erst im 16. Jahrhundert durch. Diese Entwicklung war nicht mit einer Bevölkerungsverschiebung verbunden - nur der Name ist die Elbe aufwärts gewandert, nicht die Sachsen selbst. Von Hadel (2004) umschreibt diesen Prozess damit, daß die Wettiner so ein neues "Sachsenland ohne Sachsen" erschaffen hätten.
Die Namenswanderung ging natürlich nicht unbemerkt von den damaligen Gelehrten vor sich. So schrieb der Historiker Albert Krantz um 1500, daß die Meißner (also die Bewohner der Mark Meißen, des heutigen Bundesland "Sachsen") nach Sitte und Sprache "unwürdig" seien, Sachsen zu heißen, da die "wahren" Sachsen nur im niedersächsischen Gebiet säßen. Nur die Welfen - und nicht die Askanier oder Wettiner - wären die eigentlichen legitimen Herzöge von Sachsen, nur diese könnten daher mit Recht den Sachsennamen beanspruchen (Lent, 1971). Die Wettiner versuchten im 16. Jahrhundert durch eine zielstrebig inszenierten Legendenbildung ihre vermeintlichen Ansprüche auf den Sachsennamen zu legitimieren. In ihrem mit Abstammungsphantasien ausgeschmückten "Sächsischen Stammbuch" (1500-1546) verweisen sie nicht nur auf tatsächliche Mitglieder des wettiner Fürstenhauses, sondern auch auf Vorfahren aus dem Kreise antiker Herrschergestalten, wie Alexander den Großen. Schließlich erscheint auch Sachsenherzog Widukind aus der Zeit der Sachsenkriege in der illustren Ahnenreihe, eine herbeikonstruierte Verwandschaftsbeziehung, die realgeschichtlich durch nichts zu belegen ist.
Man war nun gezwungen, die Sachsen in Norddeutschland von den Meißnern (den neuen "Sachsen") als "Nieder-Sachsen" zu unterschieden. Aus dem Jahr 1354 ist die erste Verwendung des Begriffes "Niedersachsen" überliefert. Im Zuge einer Reichsreform unter Kaiser Maximilian wurde 1512 der "Niedersächsische Reichskreis" geschaffen, der neben dem größten Teil des heutigen Bundeslandes Niedersachsen auch Holstein und Mecklenburg umfasste. Im Gegensatz dazu wurde der gleichzeitig gebildete wettinisch-brandenburgische Kreis an Ober- und Mittelelbe "Obersächsischer Reichskreis" genannt (Richter, 1978). Die Reichskreise, die bis 1806 bestanden, sollten die Vielzahl deutscher Kleinstaaten landschaftlich zu größeren Verbänden zusammenfassen, was jedoch nur unvollkommen gelang. Die Bezeichnung "Obersachsen" ("Ober" steht für die Lage an der Ober-Elbe) konnte sich bei den Meißnern nicht durchsetzen (Lent, 1971).
<< zurück weiter >>